Organisationsplattform der Allgemeinen Anarchistischen Union (Entwurf)

Allgemeiner Teil


I. Der Klassenkampf, seine Rolle und Bedeutung

"Es gibt keine einheitliche Menschheit.
Es gibt die Menschheit der Klassen,
der Sklaven und Herren."

Wie alle vorangegangenen Gesellschaften ist auch die heutige bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft uneinheitlich. Sie ist in zwei Lager gespalten, die sich nach ihrer jeweiligen sozialen Position und ihren sozialen Funktionen stark voneinander unterscheiden: das Proletariat im weitesten Sinne und die Bourgeoisie.

Es ist seit jeher das Los des Proletariats, die Last der schweren körperlichen Arbeit zu tragen, deren Früchte jedoch nicht ihm zufallen, sondern der privilegierten Klasse, die das Eigentum, die Macht und die Werke der geistigen Kultur (Wissenschaft, Bildung und Kunst) besitzt: der Bourgeoisie.

Die soziale Versklavung und die Ausbeutung der arbeitenden Massen bilden die Basis der heutigen Gesellschaft, ohne die sie nicht existieren kann.

Dieser Umstand erzeugte den seit Jahrhunderten andauernden Klassenkampf, der mal wild und stürmisch zu Tage tritt, mal unauffällig und ruhig verläuft, und der in seiner Grundlage auf eine Umgestaltung der gegenwärtigen Gesellschaft in eine Gesellschaft ausgerichtet ist, die den Bedürfnissen, Anliegen und Gerechtigkeitsvorstellungen der arbeitenden Menschen entspricht.

Die gesamte Sozialgeschichte der Menschheit bis zum heutigen Tag stellt eine ununterbrochene Kette von Kämpfen der arbeitenden Massen für ihre Rechte, für Freiheit und für ein besseres Leben dar. In der Geschichte der menschlichen Gesellschaft war dieser Klassenkampf immer der Hauptfaktor, der die Form und Verfassung der Gesellschaft bestimmte.

Die soziale und politische Struktur eines jeden Landes ist vor allem ein Ergebnis des Klassenkampfes. Ihre Gestalt dient als Gradmesser dafür, welchen Punkt der Klassenkampf erreicht hat und in welchem Zustand er sich gerade befindet. Auch die kleinste Änderung im Verlauf des Klassenkampfs, in der Wechselbeziehung der miteinander kämpfenden Kräfte, ruft unverzüglich Veränderungen im Gewebe und im Aufbau der Klassengesellschaft hervor.

Das ist die allgemeine und universelle Bedeutung des Klassenkampfes im Leben der Klassengesellschaften.

II. Die Notwendigkeit einer gewaltsamen sozialen Revolution

Die heutige Gesellschaft basiert auf dem Prinzip der gewaltsamen Versklavung und der gewaltsamen Ausbeutung der Massen. Alle Bereiche dieser Gesellschaft – Wirtschaft, Politik und die sozialen Beziehungen – werden durch die Klassengewalt und ihre untergeordneten Organe (die Behörden, die Polizei, die Armee und die Gerichte) gestützt. Alles in dieser Gesellschaft, von der einzelnen Fabrik bis hin zum gesamten Staatsapparat, ist eine Festung des Kapitals, in der die Arbeiter ständig beobachtet werden und wo immer Kräfte bereit stehen, um jede Bewegung der Arbeiter zu unterbinden, die den Grundpfeilern der heutigen Gesellschaft auch nur im Geringsten drohen oder ihre Ruhe stören könnte.

Gleichzeitig hält das jetzige gesellschaftliche System die arbeitenden Massen zwangsläufig im Zustand der Unwissenheit und geistigen Rückständigkeit; gewaltsam hindert es die Anhebung ihres geistigen und kulturellen Niveaus, damit es mit ihnen leichter fertig werden kann.

Fortschritte der heutigen Gesellschaft wie die technische Entwicklung des Kapitals und die Vervollkommnung seines politischen Systems festigen die Macht der herrschenden Klassen weiter, was den Kampf gegen sie erschwert und den entscheidenden Moment der Befreiung der arbeitenden Menschen hinausschiebt.

Durch Analyse der heutigen Gesellschaft stellen wir fest, dass die gewaltsame soziale Revolution den einzigen Weg darstellt, der zur Umgestaltung der kapitalistischen Gesellschaft in eine Gesellschaft der freien Werktätigen führt.

III. Anarchismus und anarchistischer Kommunismus

Der Klassenkampf, der aus der Unfreiheit der Arbeiter und ihren uralten Freiheitsbestrebungen entstand, ließ im Kreis der Unterdrückten die anarchistische Idee entstehen: die Idee der vollständigen Ablehnung der Klassengesellschaft und des staatlichen gegängelten Gemeinschaftslebens. Letzteres soll durch die freie, vom Staat entledigte Gesellschaft der sich selbst verwaltenden Werktätigen ersetzt werden.

Der Anarchismus entwickelte sich also nicht aus den abstrakten Gedanken eines Gelehrten oder Philosophen, sondern unmittelbar aus dem Kampf der Arbeiter gegen das Kapital, aus ihren Bedürfnissen und Anliegen, aus ihrer Mentalität, aus ihrem Streben nach Freiheit und Gleichheit, in dem die arbeitenden Massen besonders in den besseren, heroischen Epochen ihres Lebens und Kampfes aufblühen.

Hervorragende Denker des Anarchismus – Bakunin, Kropotkin u.a. – haben die anarchistische Idee nicht geschaffen; vielmehr fanden sie sie in den Massen vor und verhalfen ihr mit der Kraft ihrer Gedanken und ihres Wissens zur Entfaltung und Verbreitung.

Der Anarchismus ist nicht das Produkt individuellen Schaffens und nicht der Gegenstand individueller Experimente.
Der Anarchismus ist genauso wenig das Ergebnis allgemeinmenschlicher Bestrebungen. Eine einheitliche Menschheit gibt es nicht. Jeder Versuch, den Anarchismus zu einer Eigenschaft der ganzen Menschheit in ihrer jetzigen Gestalt zu machen oder ihm einen allgemeinmenschlichen Charakter aufzudrücken, wird sich als historische und soziale Lüge erweisen, die unweigerlich zur Rechtfertigung des heutigen Systems und zu neuer Ausbeutung führt.

Anarchismus ist allgemeinmenschlich lediglich in dem Sinne, dass die Ideale der arbeitenden Massen das Leben aller Menschen erquicken können und das Schicksal der Menschheit in Gegenwart und Zukunft mit dem Schicksal der versklavten Arbeit verbunden ist. Wenn die arbeitenden Massen obsiegen, wird es wie ein Frühling für die ganze Menschheit sein. Wenn sie scheitern, werden weiterhin Gewalt, Ausbeutung, Sklaverei und Unterdrückung in der Welt herrschen.

Die Entstehung, Blüte und Verwirklichung anarchistischer Ideale wurzelt tief im Leben der arbeitenden Massen, in ihren Kämpfen; sie sind mit dem Schicksal der Massen untrennbar verbunden.

Der Anarchismus strebt nach der Umgestaltung der heutigen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft in eine Gesellschaft, die den Arbeitern die Früchte ihrer Arbeit gewährt und ihnen Freiheit, Unabhängigkeit, soziale und politische Gleichheit sichert – eine Gesellschaft des anarchistischen Kommunismus. Hier kommen sowohl die gesellschaftliche Solidarität als auch die Idee der individuellen Freiheit jeweils voll zum Ausdruck, wobei beide Ideen sich in ihrer Entwicklung gegenseitig ergänzen und bedingen.

Der anarchistische Kommunismus ist der Auffassung, dass der arbeitende Mensch – gleich ob er körperliche oder geistige Arbeit verrichtet – der einzige Schöpfer aller gesellschaftlicher Werte ist. Ihm allein steht das Recht zu, das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben in seiner Gesamtheit zu leiten. In keiner Weise rechtfertigt der anarchistische Kommunismus die Existenz nichtarbeitender Klassen oder lässt ihren Weiterbestand zu.

Sollten sich diese Klassen neben dem anarchistischen Kommunismus erhalten, übernimmt letzterer keinerlei Verantwortung für sie. Lediglich in dem Fall, dass die nichtarbeitenden Klassen entscheiden, produktiv zu arbeiten und nunmehr im gesellschaftlichen System des anarchistischen Kommunismus auf gemeinsamer Grundlage zu leben, werden sie in ihm eine gleichgestellte Position einnehmen, d.h. eine Position als freie Mitglieder der Gesellschaft, die die Rechte dieser Gesellschaft in Anspruch nehmen und die allgemeinen Verantwortungen mit tragen.

Der anarchistische Kommunismus strebt nach der Beseitigung jeder Ausbeutung und jeder Gewalt gegen Personen und die arbeitenden Massen. Zu diesem Ziel schafft er eine wirtschaftliche und soziale Basis, die das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben des Landes in ein Ganzes zusammenführt, die jedem Einzelnen eine gleichgestellte Position und ein Maximum an Gütern und Segnungen sichert. Grundlage hierfür ist die Vergesellschaftung aller Ressourcen und Produktionsmittel (Industrie, Transport, Land, Rohstoffquellen usw.) sowie der Aufbau volkswirtschaftlicher Organe auf der Basis der Gleichheit und der Selbstverwaltung der arbeitenden Klassen.

Im Rahmen dieser selbstverwalteten Gesellschaft der Werktätigen etabliert der anarchistische Kommunismus das Prinzip der Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung jeder Person (nicht einer abstrakten „allgemeinen“ Persönlichkeit, einer „mystischen“ Persönlichkeit oder der Persönlichkeit als Idee).

Aus dem Prinzip der Gleichwertigkeit und der Gleichberechtigung jedes Einzelnen, aber auch daraus, dass der Wert der Arbeit jeder einzelnen Person nicht gemessen und beurteilt werden kann, ergibt sich das grundlegende sozialrechtliche und wirtschaftliche Prinzip des anarchistischen Kommunismus: „Jeder nach seinen Fähigkeiten und jedem nach seinen Bedürfnissen“.

IV. Ablehnung der Demokratie

Die Demokratie ist eine Form bürgerlich-kapitalistischer Herrschaft.

Grundlage der Demokratie ist die Erhaltung der gegensätzlichen Klassen der heutigen Gesellschaft – Arbeit und Kapital – sowie die Zusammenarbeit dieser Klassen auf der Basis des kapitalistischen Privateigentums. Das Parlament und die repräsentative Regierung eines Nationalstaates sind Ausdruck dieser Zusammenarbeit.

Formell verkündet die Demokratie die Freiheit des Wortes, der Presse, Organisationsfreiheit und die Gleichheit aller vor dem Gesetz.

Doch all diese Freiheiten sind so gut wie fiktiv: sie werden toleriert, sofern sie den Interessen der herrschenden Klasse, d.h. der Bourgeoisie, nicht widersprechen.

Die Demokratie tastet das Prinzip des kapitalistischen Privateigentums nicht an. Dadurch gibt sie der Bourgeoisie das Recht, die ganze Wirtschaft des Landes, die ganze Presse sowie die Bereiche Bildung, Wissenschaft und Kunst in ihren Händen zu halten, was die Bourgeoisie faktisch zum unumschränkt waltenden Herrn des Landes macht. Die Monopolstellung der Bourgeoisie in der Wirtschaft des Landes ermöglicht es ihr, ihre volle, unbegrenzte Macht auch im politischen Bereich zu errichten. Das Parlament und die repräsentative Regierung in Demokratien sind tatsächlich die ausführenden Organe der Bourgeoisie.

Die Demokratie ist somit eine der Formen bürgerlicher Diktatur, trügerisch getarnt durch fiktive politische Freiheiten und demokratische Scheingarantien.

V. Ablehnung des Staates und der Macht

Die Ideologen der Bourgeoisie definieren den Staat als Organ, das die komplizierten sozialpolitischen, zivilen und gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen innerhalb des heutigen Systems reguliert und die Rechtsordnung dieser Gesellschaft schützt. Mit dieser Definition sind Anarchisten weitestgehend einverstanden; sie fügen lediglich hinzu, dass die Rechtsordnung der heutigen Gesellschaft auf der Versklavung der großen Mehrheit des Volkes durch eine verschwindend kleine Minderheit beruht und dass der heutige Staat eben dieser Versklavung dient.

Der Staat ist zugleich ein Ausdruck der organisierten Gewalt der Bourgeoisie gegen die Arbeiter und ihre Organisationen.

Linke Sozialisten, insbesondere die Bolschewiken, sehen in der bürgerlichen Macht und dem bürgerlichen Staat ebenfalls Diener des Kapitals. Sie meinen jedoch, dass die Staatsmacht von den sozialistischen Parteien erobert und als mächtiges Werkzeug zur Befreiung des Proletariats eingesetzt werden kann. Deshalb sind sie für die sozialistische Macht und den proletarischen Staat, wobei ein Teil von ihnen die Eroberung der Macht mit friedlichen, parlamentarischen Mitteln befürwortet (Sozialdemokraten), der andere Teil für die Eroberung der Macht auf revolutionärem Wege steht (Kommunisten, linke Sozialrevolutionäre).

Der Anarchismus betrachtet beide Positionen als grundsätzlich falsch und schädlich für die Sache der Befreiung der Arbeit.

Die Macht hängt immer mit der Ausbeutung und Versklavung der Volksmassen zusammen, sie entsteht aus dieser Ausbeutung oder wird für sie geschaffen. Ohne Gewalt und Ausbeutung verliert die Macht ihre Grundlage.

Der Staat und die Macht nehmen den Massen ihre Initiative, töten ihre Selbstständigkeit und erziehen sie zu sklavischer Unterwürfigkeit und zum Glauben an Führer und Obrigkeit. Die Befreiung der arbeitenden Menschen ist unterdessen nur im Zuge eines unmittelbaren revolutionären Kampfes der breiten Arbeitermassen und ihrer Klassenorganisationen gegen das kapitalistische System möglich.

Die Eroberung der Macht durch sozialdemokratische Parteien auf parlamentarischem Wege im Rahmen des heutigen Systems wird die Befreiung der Arbeiter keinen Schritt voranbringen, schon deshalb nicht, weil die eigentliche Kraft und daher die wirkliche Macht bei der Bourgeoisie bleibt. Sie hält die ganze Wirtschaft und Politik des Landes in ihren Händen. Die Rolle der sozialistischen Macht beschränkt sich in diesem Fall auf Reformen, auf eine Verbesserung des bürgerlichen Systems (z.B. Ramsay McDonald, die sozialdemokratischen Parteien in Deutschland, Schweden und Belgien, die im Kapitalismus an die Macht gelangten).

Die Machtergreifung im Zuge einer sozialen Umwälzung und die Organisation eines sogenannten proletarischen Staates kann ebenfalls nicht zu einer echten Befreiung der Arbeit führen. Ein Staat, der zunächst vermeintlich zum Schutz der Revolution errichtet wird, entwickelt zwangsläufig spezifische eigene Bedürfnisse, wird dann zum Selbstzweck, lässt privilegierte soziale Kasten um sich herum entstehen, auf die er sich stützt; die Massen unterwirft er gewaltsam seinen Bedürfnissen und denen der privilegierten Kasten, so dass die Grundlage der kapitalistischen Macht und des kapitalistischen Staates wiederhergestellt ist: die gewaltsame Versklavung und Ausbeutung der Massen (wie beim „Arbeiter-und-Bauern-Staat“ der Bolschewiken).

VI. Die Rolle der Massen und der Anarchisten im sozialen Kampf und in der sozialen Revolution

Die tragenden Kräfte der sozialen Umwälzung sind die städtische Arbeiterklasse, die Bauernschaft und teilweise die arbeitende Intelligenz.

Anmerkung: Die arbeitende Intelligenz ist zwar, wie die ländlichen Tagelöhner und das städtische Proletariat auch, eine unterworfene und ausgebeutete Klasse, aber dank der wirtschaftlichen Privilegien, die die Bourgeoisie einigen Teilen der Intelligenz gewährt, ist sie stärker in Schichten gegliedert als die Arbeiter und Bauern. In den ersten Tagen der sozialen Revolution werden sich deshalb nur die am wenigsten wohlhabenden Schichten der Intelligenz aktiv betätigen.

Die Rolle der Massen in der sozialen Revolution und im sozialistischen Aufbau unterscheidet sich grundlegend von der Rolle, die ihnen die staatstragenden Parteien zuweisen. Die Bolschewiken und verwandte Strömungen sind der Ansicht, dass die arbeitenden Massen lediglich zerstörerische revolutionäre Instinkte besitzen und schöpferischer revolutionärer Tätigkeit unfähig sind, weshalb diese schöpferische Tätigkeit Menschen anvertraut werden muss, die im Staat oder im Zentralkomitee einer Partei konzentriert sind. Anarchisten sind wiederum überzeugt, dass die arbeitenden Massen riesige schöpferische Potentiale in sich bergen; daher streben sie nach der Beseitigung der Schranken, die die Entfaltung dieser Kräfte in der Klasse hindern.

Das größte Hindernis in dieser Hinsicht sieht der Anarchismus im Staat, der alle Rechte der Massen usurpiert und beinahe alle Funktionen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens monopolisiert. Der Staat soll aber nicht „irgendwann“ in der Gesellschaft der Zukunft absterben. Er soll von den Arbeitern gleich am ersten Tag ihres Siegs zerstört werden und darf in keiner Form wiedererrichtet werden. Er wird durch ein System föderativ vereinigter selbstverwalteter Produktions- und Verbrauchsorganisationen der Arbeiter ersetzt. Dieses System schließt sowohl staatliche Machtstrukturen als auch die Diktatur einer Partei aus.

Die Russische Revolution von 1917 stellte die Weichen für genau eine solche freiheitliche soziale Entwicklung, indem sie ein System der Arbeiter- und Bauernräte und Fabrikkomitees schuf. Aber ihr trauriger Fehler war es, dass sie nicht frühzeitig die staatliche Macht beseitigte – anfangs die Macht der Provisorischen Regierung, dann die Macht der Bolschewiken. Letztere benutzten das Vertrauen der Arbeiter und Bauern, um den bürgerlichen Staat den momentanen Verhältnissen entsprechend zu reorganisieren und sie machten dann mit diesem Staat das Werk der revolutionären Massen zunichte: die freiheitliche Struktur der Räte und Fabrikkomitees, die gerade die ersten Schritte hin zum Aufbau einer staatslosen Gesellschaft absteckten.

Die Aktivität der Anarchisten teilt sich in zwei Phasen: die vorrevolutionäre Phase und die Phase der Revolution. In jedem Fall sind die Anarchisten nur im Stande, eine Rolle zu spielen, wenn sie als organisierte Kraft auftreten, die die Ziele ihres Kampfes und die Wege zu ihrer Verwirklichung genau kennt.

In der vorrevolutionären Phase liegt die Hauptaufgabe der Allgemeinen Anarchistischen Union in der Vorbereitung der Arbeiter und Bauern auf die soziale Umwälzung.

Dadurch, dass der Anarchismus die formelle (bürgerliche) Demokratie, die Macht und den Staat ablehnt und die vollständige Befreiung der Arbeit verkündet, betont er unentwegt die Prinzipien des kompromisslosen Klassenkampfs, fördert in den Arbeitermassen ein revolutionäres Klassenbewusstsein und eine revolutionäre Gesinnung der Klassenunversöhnlichkeit.

Die anarchistische Aufklärung der Massen muss im Geiste der Klassenunversöhnlichkeit, der Antidemokratie und Antistaatlichkeit geführt werden. Aber Aufklärung allein ist nicht genug. Nötig ist auch eine gewisse anarchistische Organisation der Massen. Zu deren Verwirklichung muss die Arbeit in zwei Richtungen erfolgen: zum einen auf der Ebene der Auswahl und Gruppierung der revolutionären Kräfte der Arbeiter und Bauern auf der ideellen Basis des Anarchismus (anarchistische Ideenorganisationen), zum anderen auf der Ebene der Gruppierung der revolutionären Arbeiter und Bauern im Betrieb und als Verbraucher (revolutionäre betriebliche Organisationen der Arbeiter und Bauern, freiheitliche Arbeiter- und Bauernkooperativen u.a.).

Die Arbeiterklasse und die Bauernschaft, auf betrieblicher Basis und als Verbraucher organisiert und von der Ideologie des revolutionären Anarchismus durchdrungen, werden primäre Stützen der sozialen Revolution, und je mehr anarchistisches Bewusstsein und anarchistischer Organisationsgeist jetzt in ihre Mitte hineingetragen wird, desto mehr anarchistische Orientierung, Standfestigkeit und anarchistische Schaffenslust werden sie im Augenblick der Revolution entfalten.

Was die Arbeiterklasse Russlands angeht, so kann man sagen, dass sie auch nach acht Jahren bolschewistischer Diktatur, die die natürlichen Bedürfnisse der Massen nach Eigeninitiative gefesselt und deutlicher als andere Diktaturen die wahre Natur jeder Macht vor Augen geführt hat, noch immer ein riesiges Potential für die Schaffung einer anarchistischen und anarchosyndikalistischen Massenbewegung in sich birgt. Organisierte anarchistische Aktivisten müssen sich dieser Bedürfnisse und Möglichkeiten umgehend mit aller Kraft annehmen und dürfen nicht gestatten, dass sie sich in Menschewismus ausarten.

Ebenso unverzüglich und vollständig müssen Anarchisten ihre Organisationsbemühungen der unteren Bauernschaft widmen, die durch die Macht erdrückt wird, aber einen Ausweg sucht und gewaltige revolutionäre Möglichkeiten in sich birgt.

Die Rolle der Anarchisten in der Phase der Revolution kann sich ebenfalls nicht allein auf die Propagierung von Losungen und anarchistischen Ideen beschränken.

Das Leben ist nicht nur die Arena der Propagierung dieser oder jener Ideen, sondern im gleichen Maße auch die Arena des Kampfes, der Strategie und des Strebens eben dieser Ideen zur Meinungsführerschaft. Mehr als irgend eine andere Idee muss der Anarchismus zur führenden Idee der sozialen Revolution werden, denn lediglich auf der Grundlage anarchistischer Ideen kann die soziale Revolution die vollständige Befreiung der Arbeit herbeiführen.

Die führende Position anarchistischer Ideen in der Revolution verlangt gleichzeitig die ideelle Leitung des Geschehens durch Anarchisten. Diese Leitung darf jedoch nicht mit der politischen Führung staatlich orientierter Parteien verwechselt werden, die schließlich in eine Führung durch den Staat mündet.

Der Anarchismus strebt nicht nach der Eroberung politischer Macht, nach Diktatur. Seine Hauptbestrebung ist es, den Massen zu helfen, den richtigen Weg der sozialen Umwälzung und des sozialistischen Aufbaus zu finden. Aber es reicht nicht aus, den Massen den Weg der sozialen Revolution nur vorzuzeichnen. Es ist nötig, den revolutionären Kurs zu halten und das Ziel zu bestätigen: der Sturz der kapitalistischen Gesellschaft im Namen der freien Gesellschaft der Werktätigen. Die Erfahrungen der russischen Revolution von 1917 zeigen, dass dies keine leichte Aufgabe ist, vor allem wegen der zahlreichen Parteien, die danach trachten, die Bewegung von ihrem Streben nach sozialer Revolution abzubringen.

Obwohl sich in den sozialen Massenbewegungen zutiefst anarchistische Tendenzen und Losungen manifestieren, sind diese Tendenzen und Losungen zerstreut, es fehlt ein Medium, das sie miteinander verbindet. Daher können sie nicht auf organisierte Art und Weise die leitende ideelle Kraft entfalten, die für die Beibehaltung der anarchistischen Ausrichtung und des anarchistischen Ziels der sozialen Revolution notwendig ist. Nur ein von den Massen eingerichtetes spezielles Ideenkollektiv kann diese führende ideelle Kraft werden. Die organisierten anarchistischen Kräfte und die organisierte anarchistische Bewegung werden dieses Kollektiv bilden.

Die ideologischen und praktischen Pflichten dieses anarchistischen Kollektivs, d.h. der Allgemeinen Anarchistischen Union, fordern in der Zeit der Revolution großen Einsatz.

In allen Bereichen der sozialen Revolution wird es Initiative zeigen und sich rege beteiligen müssen: in der Bestimmung der Richtung der Revolution, im Bereich des Bürgerkriegs und der Verteidigung der Revolution, bei der Lösung der positiven Aufgaben der Revolution, in der Frage der neuen Produktion, des Verbrauchs, des Bodens usw.

In all diesen und vielen anderen Fragen verlangen die Massen von den Anarchisten klare und genaue Antworten. Und wenn die Anarchisten mit der Idee der anarchistischen Revolution und des anarchistischen Aufbaus der Gesellschaft antreten, werden sie verpflichtet sein, auf all diese Fragen genaue Antworten zu geben, die Lösung dieser Fragen mit der allgemeinen Idee des Anarchismus zu verbinden und all ihre Kräfte für ihre Umsetzung einzusetzen.

Nur so werden die Allgemeine Anarchistische Union und die anarchistische Bewegung ihre führende ideelle Rolle in der sozialen Revolution ausfüllen können.

[VII.] Die Übergangsperiode

Unter Übergansperiode verstehen die sozialpolitischen Parteien eine bestimmte Phase im Leben des Volkes, die durch den Bruch mit der alten Ordnung und die Einrichtung eines neuen wirtschaftlichen und politischen Gebildes charakterisiert ist, das aber die vollständige Befreiung der Arbeiter noch nicht in sich trägt.

In diesem Sinne sind alle Minimalprogramme der sozialpolitischen Parteien, zum Beispiel das demokratische Programm der opportunistischen Sozialisten oder das kommunistische Programm einer „Diktatur des Proletariats“ eben Programme für eine Übergangsperiode.

Ein wesentlicher Aspekt dieser Minimalprogramme ist, dass sie die Ideale der Arbeiter – ihre Unabhängigkeit, Freiheit und Gleichheit – für momentan nicht vollständig erfüllbar halten und deshalb eine ganze Reihe von Institutionen des kapitalistischen Systems bewahren: das Prinzip des staatlichen Zwangs, das Privateigentum an Produktionsmitteln, die Lohnarbeit und vieles andere mehr – abhängig davon, nach welchen Zielen dieses oder jenes Programm der politischen Parteien gerichtet ist.

Anarchisten waren immer prinzipielle Gegner solcher Programme, da sie der Auffassung sind, dass schon der Aufbau von Übergangssystemen und das Prinzip der Ausbeutung und Nötigung der Massen, das diese Systeme aufrecht erhält, unausweichlich zur Entstehung neuer Sklaverei führt.

Anstelle von politischen Minimalprogrammen sind die Anarchisten immer gleich für die soziale Revolution eingetreten, die der kapitalistischen Klasse ihre politischen und wirtschaftlichen Privilegien entzieht und die Produktionsmittel und alle Funktionen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens in die Hände der Arbeiter gibt.

Diese Position vertreten die Anarchisten bis zum heutigen Tag.

Die Idee einer Übergangsperiode, wonach in Folge der sozialen Revolution nicht die anarchistische Gesellschaft, sondern irgend ein „X“ entstehen soll, das in sich noch Elemente und Überreste des alten kapitalistischen Systems trägt, ist im Kern antianarchistisch. Sie birgt in sich die Gefahr der Festigung und Entwicklung dieser Elemente zu ihren ursprünglichen Ausmaßen und dreht die Ereignisse zurück.

Das eindrucksvolle Beispiel dafür ist das durch die Bolschewiken in Russland errichtete Regime der „Diktatur des Proletariats“, das sich nach Überzeugung der Bolschewiken alles in allem als Übergangsstadium zum vollständigen Kommunismus erweisen sollte, in Wirklichkeit aber zur Wiedererrichtung der Klassengesellschaft führte, so dass die Arbeiter und die ärmsten Bauern sich wieder einmal ganz unten befanden.

Der Schwerpunkt im Aufbau der anarchistischen Gesellschaft liegt nicht darin, am allerersten Tag der Revolution jedem Einzelnen unbegrenzte Freiheit zur Befriedigung seiner Bedürfnisse zu geben, sondern in der Erkämpfung der sozialen Basis für diese Gesellschaft und in der Aufstellung der Prinzipien der zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Frage des größeren oder kleineren materiellen Wohlstandes ist keine prinzipielle Frage, sondern eine Frage der Technik.

Das grundlegende Prinzip, nach dem die neue Gesellschaft aufgebaut wird, das den Inhalt dieser Gesellschaft ausmacht und unter keinen Umständen eingeschränkt werden darf, besteht in der Gleichheit der Verhältnisse, in der Freiheit und Unabhängigkeit der Arbeiter. Dieses Prinzip ist auch die grundlegende anfängliche Forderung der Massen, weshalb sie sich ja auch zur sozialen Revolution erheben.

Es gibt nur zwei mögliche Ausgänge: Entweder endet die soziale Revolution mit der Niederlage der Arbeiter – in diesem Fall wird man sich von neuem auf den Kampf vorbereiten müssen, auf einen erneuten Angriff auf das kapitalistische System; oder sie führt zum Sieg der Arbeiter. Dann werden diese sich die Stellungen aneignen, die die Selbstverwaltung ermöglichen – den Boden, die Produktion und die gesellschaftlichen Funktionen – und mit dem Aufbau der freiheitlichen Gesellschaft beginnen.

Das wird der Anfang des Aufbaus der anarchistischen Gesellschaft sein, der, wenn er einmal begonnen hat, ununterbrochen weitergehen wird, die anarchistische Gesellschaft wird sich erstarken und vervollkommnen.

Die Aneignung betrieblicher und gesellschaftlicher Funktionen durch die Arbeiter zieht somit eine klare Grenze zwischen der Epoche der Staatlichkeit und der Epoche der Staatslosigkeit.

Will er zum Banner der kämpfenden Massen und der sozialrevolutionären Epoche werden, darf der Anarchismus seine grundlegenden Prinzipien nicht verbergen, sein Programm nicht den Überbleibseln der alten Ordnung oder den opportunistischen Tendenzen von Übergangssystem und -perioden anpassen, sondern muss sie im Gegenteil maximal entwickeln und vervollkommnen.

[VIII.] Anarchismus und Syndikalismus

Einen Gegensatz zwischen dem anarchistischen Kommunismus und dem Syndikalismus aufzubauen halten wir für vollkommen künstlich, grundlos und sinnlos.

Die Auffassungen des Kommunismus und des Syndikalismus liegen auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Während der Kommunismus, d.h. die freiheitliche Gesellschaft gleichberechtigter Werktätiger, das Ziel des anarchistischen Kampfes ist, stellt der Syndikalismus als revolutionär-gewerkschaftliche Arbeiterbewegung lediglich eine Form des revolutionären Klassenkampfs dar.

Der revolutionäre Syndikalismus vereinigt die Arbeiter im betrieblichen Bereich und hat dabei, wie jede andere Gewerkschaftsbewegung auch, keine eigene Ideologie; er ist keine Weltanschauung, die auf jede komplexe sozialpolitische Frage der heutigen Zeit eine Antwort gibt. Ständig widerspiegelt er Ideologien einzelner politischer Gruppierungen, je nachdem, welche von ihnen gerade am intensivsten in seinen Reihen agitiert.

Hieraus ergibt sich unser Verhältnis zum revolutionären Syndikalismus. Ohne gleich die Frage der Rolle der revolutionären Syndikate am zweiten Tag der Revolution vorherbestimmen zu wollen, d.h. die Frage, ob sie die Organisatoren der Gesamtheit der neuen Produktion sein werden oder diese Rolle den Arbeiterräten oder Fabrikkomitees überlassen, sind wir der Meinung, dass sich Anarchisten am revolutionären Syndikalismus als einer der Ausprägungen der revolutionären Arbeiterbewegungen beteiligen sollen.

Jetzt geht es jedoch weniger darum, ob sich Anarchisten am revolutionären Syndikalismus beteiligen sollen oder nicht, als darum, wie und mit welchem Ziel sie sich beteiligen sollen.

Die Vorgehensweise der ganzen bisherigen Zeit bis in unsere Tage, wo Anarchisten einzeln als Arbeiter und Propagandisten in die revolutionär-syndikalistische Bewegung hineingehen, halten wir für einen stümperhaften Umgang mit der Gewerkschaftsbewegung.

Der Anarchosyndikalismus, der bestrebt ist, die anarchistische Ideologie am linken Flügel des revolutionären Syndikalismus durch die Schaffung von Syndikaten anarchistischen Typs zu festigen, stellt in dieser Hinsicht einen Schritt in die richtige Richtung dar, doch überwindet er diese ganze Flickschusterei nicht. Der Anarchosyndikalismus stellt keine dauerhafte Verbindung zwischen der Anarchisierung der syndikalistischen Bewegung und der Organisation anarchistischer Kräfte außerhalb dieser Bewegung her. Nur eine solche Verbindung erlaubt es, den revolutionären Syndikalismus nachhaltig zu anarchisieren und Abweichungen hin zum Opportunismus vorzubeugen.

Wir halten den revolutionären Syndikalismus für eine rein gewerkschaftliche Bewegung der Arbeiter, die keine bestimmte eigene sozialpolitische Ideologie hat und daher auch nicht in der Lage ist, das soziale Problem selbständig zu lösen. Unserer Meinung nach ist es die Aufgabe der Anarchisten in den Reihen dieser Bewegung, die anarchistische Ideologie in ihr zu entwickeln und sie ideell zu führen, um sie in eine aktive Armee der sozialen Revolution zu verwandeln. Man muss immer bedenken, dass der Syndikalismus rechtzeitig eine Stütze in der anarchistischen Ideologie erhalten muss, weil er sich sonst wohl oder übel auf die Ideologie einer staatstragenden politischen Partei stützen wird.

Der französische Syndikalismus, der einst mit anarchistischen Losungen und anarchistischer Taktik glänzte aber danach teilweise unter kommunistischen Einfluss, insbesondere aber unter den Einfluss rechter opportunistischer Sozialisten fiel, ist ein frappantes Beispiel dafür.

Die Aufgabe der Anarchisten in den Reihen der revolutionären Gewerkschaftsbewegung kann jedoch erfüllt sein, wenn ihre Arbeit dort aufs Engste mit dem Wirken der anarchistischen Organisation außerhalb des Syndikats verbunden und abgestimmt ist. Mit anderen Worten, in die revolutionäre Gewerkschaftsbewegung müssen wir als organisierte Kraft hineingehen, eine Kraft, die für die Arbeit der allgemeinen anarchistischen Organisation in den Syndikaten verantwortlich ist und die von der Organisation geleitet wird.

Wir dürfen uns nicht auf die Schaffung anarchistischer Syndikate beschränken, sondern müssen danach streben, ideell auf den gesamten revolutionären Syndikalismus in all seinen Formen einzuwirken (u.a. auf die IWW, die russischen Gewerkschaften usw.). Das können wir erreichen, wenn wir an die Aufgabe als streng organisiertes anarchistisches Kollektiv herangehen, aber keineswegs als kleine primitive Grüppchen, dazu noch ohne organisatorische Verbindung zueinander und ohne ideelle Abstimmung.

Anarchistische Betriebsgruppen, die an der Schaffung anarchistischer Syndikate arbeiten, die den Kampf in den revolutionären Syndikaten um die Vorherrschaft der anarchistischen Ideologie im Syndikalismus und um die ideelle Leitung der Syndikate führen und in ihrem Wirken von der vereinten anarchistischen Organisation, der sie angehören, gelenkt werden: so sieht das sinnvolle Verhältnis des Anarchismus zum revolutionären Syndikalismus und zu den verwandten revolutionären Gewerkschaftsbewegungen aus.

 


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