Organisationsplattform der Allgemeinen Anarchistischen Union (Entwurf)

Einleitung


Anarchisten!

Es ist denkwürdig, dass, ungeachtet der Kraft, positiven Ausstrahlung und unbestreitbaren Gültigkeit anarchistischer Ideen, ungeachtet der Gradlinigkeit und Integrität anarchistischer Positionen in der sozialen Revolution, ungeachtet des Heldenmuts und der zahllosen Opfer, die Anarchisten im Kampf für den anarchistischen Kommunismus erbracht haben, dass ungeachtet all dessen die anarchistische Bewegung immer schwach geblieben ist; in der Geschichte des Kampfes der Arbeiterklasse war sie meist ein unbedeutender Fakt, aber kein handelnder Faktor.

Dieser Widerspruch zwischen der positiven Ausstrahlung und unbestreitbaren Gültigkeit anarchistischer Ideen und dem kläglichen Zustand der anarchistischen Bewegung hat eine Reihe von Ursachen, von denen die wesentlichste der Mangel an organisatorischen Prinzipien und organisierten Verhältnissen in der anarchistischen Gemeinschaft ist.

Die anarchistische Bewegung ist in allen Ländern durch lokale Organisationen vertreten, die gegensätzliche Ideologien und Taktiken verkörpern, keine Perspektive für die Zukunft haben und keine kontinuierliche Arbeit leisten. Wenn sie eingehen, hinterlassen sie so gut wie keine Spuren.

Für diesen Zustand des revolutionären Anarchismus, wenn wir ihn als Ganzes betrachten, gibt es nur eine Bezeichnung: chronische allgemeine Desorganisation. Diese Desorganisation hat sich wie Gelbfieber tief in den Organismus der anarchistischen Bewegung hineingefressen und zehrt an uns seit Jahrzehnten.

Es ist aber auch unbestreitbar, dass diese Desorganisation in einigen Missbildungen ideologischer Art wurzelt, in einer verkehrten Vorstellung des individualistischen Prinzips im Anarchismus, in seiner Gleichsetzung mit Verantwortungslosigkeit. Die Freunde der vergnügungssüchtigen Autonomie sind hartnäckige Befürworter des chaotischen Zustandes der anarchistischen Bewegung, sie zitieren die unerschütterlichen anarchistischen Prinzipien und die großen Lehrer, um diese Zustände zu rechtfertigen.

Die unerschütterlichen Prinzipien und die Lehrmeister sprechen aber eine ganz andere Sprache.

Die Zersplitterung ist die Vorstufe des Todes, während Geschlossenheit ein Garant des Lebens und der Entwicklung ist. Dieses Gesetz des sozialen Kampfes trifft gleichermaßen für Klassen wie auch für politische Parteiungen zu.

Der Anarchismus ist kein schönes Phantasiegebilde, das sich ein Philosoph in seinem Kämmerchen erdacht hat, sondern eine soziale Bewegung der arbeitenden Massen. Schon aus diesem Grund muss er seine Kräfte in einer allgemeinen, kontinuierlich agierenden Organisation sammeln, wie es das Leben und die Strategie im sozialen Kampf, im Klassenkampf, erfordern.

Wir sind überzeugt, sagt Kropotkin, dass die Bildung einer anarchistischen Partei in Russland der allgemeinen revolutionären Sache nicht nur nicht schaden würde, sondern in höchstem Grade wünschenswert und nützlich wäre.
(Vorwort zur russischen Ausgabe von Bakunins „Pariser Kommune und die Idee des Staates“, 1892)

Auch Bakunin hat niemals Einwände gegen eine allgemeine anarchistische Organisation vorgebracht. Im Gegenteil, seine organisatorischen Bestrebungen und sein Wirken in der Ersten Internationale geben allen Grund, in ihm einen aktiven Verfechter gerade einer solchen Organisation zu sehen.

Überhaupt kämpften fast alle anarchistischen Aktivisten gegen „zerstreute“ Arbeit und dachten an eine durch einheitliche Zielsetzung und Taktik verbundene anarchistische Bewegung.

Am deutlichsten und ausdrucksvollsten kam die Notwendigkeit einer allgemeinen Organisation in den Jahren der russischen Revolution von 1917 zum Ausdruck. Während dieser Revolution zeigte sich die anarchistische Bewegung eben äußerst zersplittert und verworren. Das allgemeine Organisationsdefizit trieb viele anarchistische Aktivisten zu den Bolschewiken; viele der Verbliebenen hält er in einem Zustand der Passivität, was die Entfaltung ihrer zuweilen kolossalen Kräfte hindert.

Wir brauchen dringend eine Organisation, die die Mehrheit der anarchistischen Bewegung vereint, eine generelle taktische und politische Linie im Anarchismus festlegt und zur leitenden Kraft der Bewegung wird.

Es wird Zeit, dass sich der Anarchismus aus dem Sumpf der Desorganisation zieht, das ewige Schwanken in den wichtigsten theoretischen und taktischen Fragen hinter sich lässt und sich für den Weg bewusster Zielsetzung und organisierter kollektiver Praxis entscheidet.

Es reicht aber nicht aus, die Lebensnotwendigkeit einer solchen Organisation zu konstatieren. Vielmehr ist es nötig, eine Arbeitsweise zu finden, die zu ihrer Gründung führt.

Als theoretisch und praktisch haltlos lehnen wir den Gedanken ab, eine Organisation nach Art der „Synthese“ zu schaffen, d.h. eine Organisation, die aus Anhängern verschiedener anarchistischer Strömungen besteht. Da sie unterschiedliche theoretische und praktische Ansätze versammeln würde, wäre eine solche Organisation nichts anderes, als ein Sammelsurium von Personen, die unterschiedliche Ansichten zu allen Fragen der anarchistischen Bewegung vertreten; bei der ersten ernsthaften Bewährungsprobe würde sie unvermeidlich auseinanderfallen.

Die Methode des Anarchosyndikalismus kann die organisatorischen Probleme des Anarchismus auch nicht lösen, da der Anarchosyndikalismus dieses Problem überhaupt nicht in den Vordergrund stellt. Vielmehr ist er mit dem Eindringen und Fußfassen im Arbeitermilieu beschäftigt. Wobei man in Ermangelung einer allgemeinanarchistischen Organisation durchaus etwas im Arbeitermilieu erreichen und bis zu einem gewissen Grad in ihm Fuß fassen kann.

Die einzige Methode, die zur Lösung des allgemeinen organisatorischen Problems führt, ist unseres Erachtens die Vereinigung der anarchistischen Aktivisten auf dem Boden bestimmter ideologischer, taktischer und organisatorischer Positionen, d.h. auf der Grundlage eines mehr oder minder abgeschlossenen einheitlichen Programms.

Die Ausarbeitung eines solchen Programms ist eine der Hauptaufgaben, die der soziale Kampf der letzten Jahrzehnte den Anarchisten auferlegt. Eben dieser Aufgabe hat die Gruppe russischer Anarchisten im Ausland einen wesentlichen Teil ihrer Anstrengungen gewidmet.

Die unten zu lesende „Organisationsplattform“ stellt ein Gerüst dar, das Skelett eines solchen Programms. Sie soll als erster Schritt hin zur Versammlung der anarchistischen Kräfte in einem aktiven handlungsfähigen revolutionären anarchistischen Kollektiv dienen: die Allgemeine Anarchistische Union.

Wir machen uns keine Illusionen hinsichtlich Lücken in dieser Plattform. Wie jeder neue, praktische und zugleich verantwortungsvolle Schritt hat auch die Plattform zweifellos ihre Lücken. Möglicherweise sind eine Reihe von wesentlichen Überlegungen nicht in die Plattform eingegangen oder sind ungenügend berücksichtigt worden; eventuell sind andere Punkte wiederum zu detailliert oder mit Wiederholungen ausgearbeitet worden. Das ist alles möglich, aber darauf kommt es nicht an. Es kommt darauf an, ein Fundament für eine allgemeine Organisation zu legen, und dies ist durch die ausgearbeitete Plattform im notwendigen Maß erreicht. Nun ist es Sache des allgemeinen Kollektivs, also der Allgemeinen Anarchistischen Union, diese Plattform auszufüllen, zu vertiefen und zum definitiven Programm der gesamten anarchistischen Bewegung zu machen.

Auch in einer anderen Sache machen wir uns nichts vor: Es ist abzusehen, dass viele Vertreter des sogenannten Individualismus und des chaotischen Anarchismus mit Schaum vor dem Mund über uns herfallen und uns der Verletzung anarchistischer Prinzipien bezichtigen werden. Wir wissen jedoch, dass die individualistischen und chaotischen Elemente unter „anarchistischen Prinzipien“ eben das Gemisch aus Schlamperei, Zügellosigkeit und Verantwortungslosigkeit verstehen, das unserer Bewegung beinahe den Garaus gemacht hätte. Gegen diese Missstände gehen wir jetzt mit unserer ganzen Kraft und Leidenschaft an. Die Attacken aus diesem Lager können wir daher getrost beiseite lassen. Unsere Hoffnungen setzen wir statt dessen auf die Aktivisten, die dem Anarchismus treu geblieben sind, die die ganze Tragödie der anarchistischen Bewegung erleben und ertragen mussten und nun ihre liebe Not haben, einen Ausweg zu finden.

Große Hoffnungen setzen wir auch auf die anarchistische Jugend, die unter dem Lufthauch der russischen Revolution geboren wurde und sogleich in den Kreislauf der konstruktiven Probleme geriet und deshalb notwendigerweise die Verwirklichung der organisatorischen und positiven Prinzipien im Anarchismus fordern wird.

Wir rufen alle russischen anarchistischen Organisationen, die es verstreut in verschiedenen Ländern der Welt gibt, sowie einzelne anarchistische Aktivisten dazu auf, sich in einem revolutionären Kollektiv auf der Basis der allgemeinen Organisationsplattform zusammenzuschließen.

Möge sich diese Plattform als revolutionäre Losung und Sammelbecken für alle Aktivisten der russischen anarchistischen Bewegung erweisen, möge sie den Grundstein für die Allgemeine Anarchistische Union legen.
 

Es lebe die organisierte anarchistische Bewegung!
Es lebe die Allgemeine Anarchistische Union!
Es lebe die soziale Revolution der Arbeiter der Welt!

Gruppe russischer Anarchisten im Ausland
Sekretär: P. Arschinow
Paris, den 20. Juni 1926


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